Paris-Brest-Paris 2019 – Tinteniac (KM360) – Tinteniac (KM870)

Kalte Nächte , Warme Tage
Dämmerung kündigt das Ende der kalten Nacht an

BIMMMELIIIMMMM… Ausruhen ist vorbei! Der Wecker klingelt erbarmungslos nach 20 Minuten Powernap. Weiter geht´s bergauf.

Was bisher geschah…

Bisher bin ich bis an die Startlinie von Paris-Brest-Paris 2019 gekommen, habe alle Qualifikations-Brevets erfolgreich beendet, bin gesund geblieben und war zuversichtlich, dass PBP gut laufen wird. Ich bin gut nach Paris gekommen und hatte eine wunderbar aufregende Zeit vor dem Start (Teil 1 vom PBP-Blog). Dann sind wir gestartet! Ich bin wirklich bei PBP am Start, habe ich gedacht. Unfassbar! Ebenso unfassbar: Die Anzahl der Wellen auf den ersten 360km. Das war der zweite Teil dieses Blogs. Rauf und Runter, den ganzen Tag. Mit Wind von vorne, weil: meistens ist ja Westwind in Europa.

Was nun passiert…

Nun folgt hier der dritte Teil der langen Strecke. Unser Basecamp, das WoMo bleibt in Tinteniac (KM360) und Simon und ich fahren nach Brest und zurück. Den zweiten Stop am WoMo machen wir dann bei KM 870. Doch bis dahin liegen noch eine ganze Menge Hügel vor uns.

Etappe für Etappe

Noch 864km Radfahren, da kann einem kurz übel werden. Das ist nicht ganz so weit wie von Hamburg nach Paris. Argh. Wir starten auf die nächste Etappe zur Kontrolle in Loudeac (KM445) gen späten Abend an Tag 1, Montag 19.08.. Bis nach Loudeac sind es 85km und irgendwer war so klug mir zu sagen, dass dies die schwerste Etappe sei. Bingo!

Hab ich ja in der Nacht so RICHTIG Bock drauf. Nicht.

Die ersten Kilometer gehen dahin, die Nacht kommt, es bleibt noch recht warm und die hübschen Dörfer auf der Strecke haben sich auch nachts schick herausgeputzt. Gerade einmal 26 Kilometer hinter Tinteniac ist plötzlich rechts ein Zelt mit Beleuchtung und Radparkplatz. Die Station (Quedillac) hatte ich nicht auf dem Zettel aber wir beschließen trotzdem eine kleine Pause zu machen! Es gibt nämlich Crepes! Und einen Kaffee, genau richtig für die Nacht! Kurzer Stop auf der Toilette, dort liegt bereits die erste Frau zusammengekauert vor der Toilettentür und macht ein Nickerchen. Ich bin leise, ich will sie ja nicht wecken. Drinnen ist es warm, 2m neben der Frau hätte es auch ein Feldbett gegeben.

Kalt. Kälter. Bretagne?

Als ich wieder raus komme wird mir klar, dass es doch eher frisch geworden ist. Wir müssen weiter! Und dann wurde es richtig frisch. Bereits nach wenigen Metern merke ich, dass mir nicht wieder warm wird. Ich halte an und ziehe alles an, was ich mit habe. Regenjacke (die ist komplett dicht und macht ein schönes Schwitzzelt), Regenhose (gleiches Prinzip) und meine Geheimwaffe, die wasserdichten Überhandschuhe. 14 Gramm, dünnes Plastik aber stabil und die halten den kalten Fahrtwind von meinen Händen fern.

So geht´s. Wir radeln weiter.

Bis in den Morgen hinein. Möglicherweise haben wir nach einen Powernap irgendwo gemacht? Auf diesem Dorfplatz wo uns vor einem Büdchen dicke, warme Decken gereicht wurden? Das war wunderbar! Am Liebsten hätte ich mich eingekuschelt und hätte ausgeschlafen. Aber irgendwer wollte nach Brest. Keine Ahnung wer das war.

Und es wird kurz bevor es wärmer mit der aufgehenden Sonne wird, nochmal kälter. 3 Grad sagt der Garmin später und Nebel. Das ist nachts echt nicht so schön!

Kalte Nächte , Warme Tage
Dämmerung kündigt das Ende der kalten Nacht an

Loudeac (KM445) – Freustück

Endlich was zu essen! Die Kontrolle in Loudeac empfängt uns mit warmen Kakao in einer riesigen Schüssel, lecker Criossants (mit reichlich Butter), Pain au chocolat und süßem Dosenobst! Perfekt! Ich atme das Essen eher ein, als dass ich es kaue. So lecker! Lebensgeister sind wieder am Start! Die Nacht ist überstanden! Tageslicht, Sonnenschein, Radfahren! Supergut!

Auf dem Radparkplatz krame ich meine Sachen wieder ans Rad, Flaschen sind voll, kann losgehen. Simon puzzelt noch an seinem Rad um und ich gucke in der Gegend herum. Auf der anderen Seite vom Zaum um die Schule, die unsere Kontrolle berherbergt, ist offenbar ein Seniorenheim. Hinter einer bodentiefen Glasscheibe sitzt ein alter Herr in seinem Elektrorollstuhl und schaut sich das Treiben vor seinem Fenster an. Die Kontrolle ist nicht mehr so voll und ich gucke ihn an.

Er guckt zurück. Ich winke.

Er winkt mit einer Inbrunst zurück, die mir (auch jetzt gerade nochmal!) die Tränen in die Augen schießen lässt! Wie gerne wäre er vermutlich hier mitten in zwischen den Radfahrerinnen und -fahrern. Ich bin zutiefst gerührt. Vermutlich guckt er da seit Stunden zu. Sonst guckt er vielleicht den spielenden Kindern auf dem Schulhof zu. Aber während der langen Sommerferien gibt vielleicht sonst nicht so viel zu sehen. Doch dieses Jahr gibt es hier Radbekloppte zum Angucken! Ich winke nochmal und wir fahren los. Es sind noch Kilometer da.

Carhaix-Plougere (KM521) – Letzte Abfahrt vor Brest

Und weiter geht es bergauf. Auch mal bergab. Aber eher bergauf. Und in dem nun folgenden Abschnitt irgendwie noch mehr als vorher. Sollte das nicht der schlimmste gewesen sein?! Lohnt ja auch nicht darüber nachzudenken, ändert nix. Ich lasse den Gedanken ziehen. Das klappt erstaunlich gut.Treten. Runter schalten. Treten. Rauf schalten. Und der nächste Hügel. Der morgendliche Nebel verzieht sich langsam und lungert nur noch in den Tälern rum. Die Ausblicke über Hügel, Nebelschwaden, aufgehende Sonne und Tau auf den Wiesen sind hinter jeder Ecke. Die Landschaft zieht wie in einem Film vorbei. Ganz doll kitschig.

Und genau in diesem Moment trifft uns die Realität.

In einem Pavillion auf einem Dorfplatz. Dort wird offenbar Kaffee ausgeschenkt, wir entscheiden uns für einen kurzen Stop. „Ja, wir hätten gerne 2 Kaffee.“ Es vergehen ein paar Augenblicke. Der ältere Herr hinter dem Gartentisch kippt einen 10l Behälter. Ein Rinnsal Kaffee ergießt sich in einen Plastikbecher. Es folgt französisches Gespräch mit anderen älteren Herren hinter dem Tisch. „ja, wir nehmen 2 Kaffee!“ – Was ist denn mit denen?!

Wir verstehen nicht was nun so kompliziert sein soll… Langsam dämmert es uns.

Alle (!) hinterm „Tresen“ sind immernoch besoffen. Die feiern hier seit gestern abend und sind noch derart verpeilt, dass 2 Kaffee ne echte Aufgabe sind. Beim Blick hinter den „Tresen“ ahnen wir das Ausmaß der nächtlichen Party. Hier muss richtig Stimmung gewesen sein. Zumindest gemessen and der Menge der leeren Weinflaschen. Wir bekommen einen 2. Instant-Kaffee, der schrecklich schmeckt und fahren alsbald weiter. Könnte ja auch mal bergab gehen.

Ein weiterer kurzer Zwischenstop folgt in Saint-Nicolas-du-Pelem, wir essen sicherlich irgendwas und weiter geht die Reise nach Carhaix. Der Vormittag verstreicht. Die Sonne scheint. Es geht weiter bergauf und bergab. Simon zieht vor, ist er doch bergauf zügiger als ich unterwegs. In Carhaix gibt es eine mittelmäßige Mahlzeit (Nudeln mit Butter und Käse. Die Nudeln sind so kalt, dass der nicht mal schmilzt. Die Apfeltarte war aber gut!). Und dann folgt der größte Hügel der Tour.

PBP 2019 - Roc Trévezel
PBP 2019 – Rauf auf den Roc Trévezel

Vor Brest (KM610) liegt der Roc Trévezel

Nundenn, hilft ja nix. Der Hügel wird schon gehen. Zunächst geht es jedoch durch ein schönes (welliges, wie sonst…) Tal. An einem kleinen Dorf namens Huelgoat vorbei. Mein Hirn, das seit 32 Stunden wach ist, macht daraus HügelGoat. Die Hügelziege. Vielleicht bin ich das. Vielleicht auch nicht. Ich überhole den Starter mit dem Fatbike. Ja, FATBIKE! Seine Startnummer verrät mir, dass er viele Stunden vor mir gestartet sein muss. Was für eine Leistung in Geduld und Ausdauer!

Ich muss mal Pause machen.

Schon wieder bergauf. Und das ist noch gar nicht dieser Roc Trévezel. In einem Wäldchen knabbere ich die geschenkten Treets meiner Arbeitskollegen weg und gucke in den Wald. Voll schön hier! Aber der Roc wartet, es geht weiter bergauf! Die Strecke spuckt mich auf eine größere Straße, die direkt auf den Roc führt. Nun geht es lange bergauf. Nicht schlimm, es lässt sich gut fahren. Zunehmend mehr Radler kommen mir entgegen!

Die sind schon auf dem Rückweg!

Die Aussicht ist atemberaubend. Eine Art Hochebene öffnet sich, der Blick geht fast bis zum Meer, 360 Grad wellige Landschaft, kleine Wölkchen und ein bisschen Sonnenschein! Und dann geht es endlich bergab! Laaange… Und das darf ich auch wieder hoch fahren. YEAH!

Irgendwer sagt, es dauere 4-5 Stunden wieder an diesem Punkt der Strecke zu sein. Als ob das was Schlechtes wäre. Mich setzt diese Aussage unter Druck und macht mich ungeduldig. Meine Gedanken werden harscher und ich sage zu mir selbst: „Ist mir doch scheißegal wie lange es bis hierhin zurück dauert. Das ist der Weg ZURÜCK! Wie geil ist es bitte, wenn ich auf dem bin?!“. Das Gras wächst außerdem nicht schneller wenn ich daran ziehe. Weg mit diesen Gedanken.

Zum Glück geht es immernoch bergab!

Da! Ist! Es! BREST!

PBP 2019 - Ich bin in Brest
PBP 2019 – Brest! Hie Hälfte ist geschafft!

Ich treffe Simon in der Kontrolle wieder. Wir suchen nach Essbarem. Im „Restaurant“ der Kontrolle gibt es trockenes Baguette von gestern mit Käse und frisches Bier vom Fass. Sonst nix. Wir entscheiden uns für das Baguette und gegen das Bier. Einige der amerikanischen Randonneure bauen ihre Retro-Randobikes auseinander und verpacken sie. Frohen Mutes scheinen alle zu sein.

Wie?! Die hatten gar nicht vor zurück zu fahren?!

Gut, dass ich diese Option nicht vorher kannte und „versehentlich“ gebucht hätte.

Nun geht´s ja nur noch zurück. HaHa.

Und wieder bergauf. Zurück bergauf auf den Roc Trévezel. Der Rückweg ist ein wenig anders, nicht mehr durch Hügelziege zurück. Das Roadbook kündigt für die kommenden 83km nach Carhaix nur 6 (!) Abbiegehinweise an. Meistens geht es auf größeren Straßen geradeaus, berauf und bergab, aber weniger als auf der Hin-Etappe.

Bergauf. Mal wieder. Auf dem nächsten Hügel erwartet mich eine kleine Patisserie. Es gibt Zitronentarte und ein frisch gebackenes Irgendwas. Sieht aus wie frittierter Bisquitteig aufgerollt. Ich nehme eins, die Nacht kommt schließlich und aus Brest war keine Verpflegung mitzunehmen. Außer dem trockenen Käse-Baguette. Das hier sieht viel besser aus. Die Zitronentarte futtere ich gleich. Das Frittierte stecke ich ein. Die Nacht zieht auf, Simon und ich fahren lieber zusammen im Dunkeln. Manche Randonneure fangen nun schon an mitten auf der Straße zu halten. Wir lassen sowas und pushen uns durch die kühle Nacht nach Carhaix.

Tarte au Citron bei PBP
Leckere Tarte au Citron bei PBP 2019

Wir müssen schlafen!

Noch eine Nacht ohne wenigstens ein solides Stündchen Schlaf ist wohl nicht so gut und ich freue mich, dass Simon entscheidet eine bzw. zwei der angebotenen Feldbetten in Carhaix für 2 h zu beziehen. Ob wir erst essen und dann schlafen oder andersherum?! Ich habe Hunger. Simon will Schlafen. Kompromisse sind wenn beide verlieren und so geht Simon direkt aufs Feldbett, ich hole noch mein frittiertes Etwas vom Rad. Ich esse lieber vor UND nach dem Schlafen.

In voller Montur schmeiße ich mich auf das Feldbett, Regenjacke und Weste ist ein gutes Kopfkissen und knabbere im Liegen, im Dunkeln mein frittiertes Abendbrot. Es ist wahnsinnig lecker.

Schlimmer kann ich mich kaum fühlen.

Nach 2h werden wir geweckt. Alles in mir rebelliert. Die Turnhalle ist überheizt und ich friere, ich kann mich kaum anziehen, kann meine Sachen nicht finden, kann nicht zusammen packen und kann nicht gucken. Ich brauche neue Kontaktlinsen. In Zeitplupe sammle ich mein Zeugs zusammen und fummel mir neue Linsen ins Auge. Es gibt Crepes zu essen und Fruchtbrei! Und Kaffee.

Ich sehe richtig scheiße aus.

Hilft nix, weiter geht´s bergauf.

Zum Glück ist es dunkel draußen, da sehe ich nicht wie schlimm ich aussehe. Tretentretentreten. Es ist vielleicht 3 Uhr nachts und wird immer kälter. Erneut wird es eine Nacht mit 3 Grad und Nebel. Als wir in Saint-Nicolas-du-Pelem ankommen gibt es gerade noch belegte Stullen, da nehmen wir 2. Kurz darauf wird in der Station zusammengepackt. Dabei sind wir gar nicht schlecht in der Zeit. Die nach uns kommenden müssen dann wohl ohne Essen weiter… Auch merkwürdig…

PBP 2019 Schlafende Randonneure
Auf die schnellen Randonneure brauchen mal ein Päusschen

Die Sonne wärmt nicht

Es ist fast 6 Uhr morgens. Die Dämmerung ist schon längst aufgezogen und ich denke, dass es demnächst wärmer werden müsste. Wird es aber nicht. Der Nebel und die kalte Luft ist in alle Täler geflossen und die warme Luft liegt darüber. Auch 2 Stunden später ist es immernoch ziemlich frisch. Die nächste Kontrolle erreichen wir gegen halb 10.

Auf dem Hinweg war Gegenwind, weil ja meistens Westwind ist in Europa. Als kleines Bonbon dreht der Wind in der zweiten Nacht. Nun ist Ostwind in Europa und wir haben den Wind wieder von vorne. Es wäre ja sonst auch zu einfach…

LOUDEAC (KM783)

Noch nie in meinem Leben bin ich so lange am Stück und so weit Rad gefahren. Auf der einen Seite finde ich das ziemlich krass, auf der anderen Seite versuche ich die Kilometer möglichst zu vergessen und mich nur auf die momentane Etappe zu konzentrieren. In Loudeac gibt´s ne Wurstplatte, ne grüne Banane, Orangensaft und Baguette. Gourmettour pur.

Wurstplatte in Loudeac PBP 2019
Lecker Wurstplatte zum Frühstück – PBP 2019

Immerhin scheint nun langsam wieder die Sonne und es ist nur noch eine Etappe bis Tinteniac, wo Timon auf uns wartet. Dafür brauchen wir bis nachmittags. Erneut ist keine Zeit für eine lange Pause in Tinteniac (KM870), die Zeit sitzt uns im Nacken und wir haben noch nicht verstanden, ob die Zeiten auf der Brevetkarte Cut-Off-Zeiten sind oder nur die Gesamtzeit zählt. In jedem Fall können wir nicht bummeln. Kurze Pause, neue Hose (Guuuuut!), neues Futter ans Rad und dann liegen die letzten 350km vor uns.

Als ich die ersten 350km bis nach Tinteniac gefahren hatte, war ich ziemlich fertig und voller Zweifel, dass ich diese Leistung fertig bringe. Quasi 24h später am gleichen Ort in die andere Richtung bin ich zuversichtlich, dass ich die Kilometer schaffe, aber ob mir die Zeit reicht weiß ich nicht. Gerade eben aus der Zeit zu fallen wäre aber richtig ärgerlich und ist keine Option! Es liegt noch eine Nacht auf dem Rad vor mir. Und dann noch ein weiterer Tag. Die Kurbel zu drehen wird zum Automatismus, die Frage des „WARUM?“ kommt nicht in mein Hirn. Das ist auch viel zu fertig für irgendwas. Nun will ich das Ding auch nach Paris bringen!

Aber erst noch einen Moment die Beine hoch legen, nur kurz!

Vorschau auf Teil 4:

Im letzten Blog von der Strecke gibt es einen Bericht aus der freakigsten Nacht, Erkenntnisse über das eigene Hirn, den kürzesten Stop an einer Kontrolle, die größte Überraschung auf der Strecke und die krasseste Erfahrung auf dem Rad.

Hier geht´s zum vierten Teil!

 

 

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